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Obdachlosigkeit hat (k)ein Geschlecht

Gerhard Wagner, Obmann von HeForShe Vienna und Teil des Filmteams des zero-Budget Projekts „Obdachlos – Zuhause am Rande der Gesellschaft“, schreibt über die Relevanz und Wichtigkeit einer sensiblen Genderperspektive, wenn man sich gesellschaftlichen Themen wie dem der Obdachlosigkeit widmet.

Wenn wir an obdachlose Menschen denken, dann taucht meist das Bild eines „typischen“ Sandlers vor unseren Augen auf. Ungepflegt, unangenehm riechend, rauchend und alkoholisiert liegt er in irgendeiner Ecke am Straßenrand neben seinen wenigen Habseligkeiten und noch mehr Dosen Bier und Tetrapack-Wein. Dieses klischeehafte Bild ist aber in zweierlei Hinsicht problematisch und schlicht und ergreifend falsch: Zum einen entspricht nur ein minimaler Bruchteil der Obdachlosen diesem klischeehaften Bild. In Wien gibt es Schätzungen zufolge etwa 10.000 wohnungslose Menschen, mehr als 1.000 davon leben tatsächlich auf der Straße. Würden all diese Menschen unserer Klischee-Vorstellung entsprechen, dann würde sich uns wohl ein ganz anderes Straßenbild zeigen. Zum anderen ist die obdachlose Person in unserer Vorstellung fast immer männlich. In unseren Köpfen hat Obdachlosigkeit ein Geschlecht – Obdachlosigkeit ist männlich. Dies führt dazu, dass wir kaum an Frauen denken, wenn wir über Obdachlosigkeit sprechen – sei es in Alltagsgesprächen oder in politischen Diskussionen. Doch sie sind da. Sie sind viele. Und doch sind sie unsichtbar.

Diese Unsichtbarkeit hat einen Grund: „versteckte Obdachlosigkeit“. Um nicht auf der Straße zu landen, leben obdachlose Frauen zumeist in prekären Wohnsituationen und gehen Zweckbeziehungen ein, die oftmals von Gewalt, sexuellen Übergriffen und Abhängigkeiten geprägt sind. Insbesondere Frauen mit Kindern neigen dazu, Zweckgemeinschaften einzugehen und nehmen bewusst psychische und körperliche Gewalt in Kauf, um ihre Kinder vor der Straße zu schützen bzw. in weiterer Folge nicht an das Jugendamt zu verlieren. Viele Frauen verstecken also ihre Obdachlosigkeit, weil die Furcht vor dem, was auf der Straße droht, größer ist als das Leid, dass viele von ihnen in diesen Zweckgemeinschaften ertragen müssen.

Frauen sehen sich dabei einer doppelten strukturellen Benachteiligung ausgesetzt. In unserer patriarchalischen Gesellschaft sind Frauen nach wie vor sowohl wirtschaftlich, politisch als auch in so gut wie allen anderen Bereichen benachteiligt. Diese strukturelle Diskriminierung führt dazu, dass Frauen häufiger und schneller armutsgefährdet und von Wohnungslosigkeit bedroht sind. In dieser prekären Situation ist es nur ein kleiner Schritt in die Obdachlosigkeit. Einmal wohnungs- bzw. obdachlos, stehen sie erneut diskriminierenden Rahmenbedingungen gegenüber. Hilfseinrichtungen für Obdachlose sind nicht selten auf männliche Bedürfnisse ausgerichtet. Die Unsichtbarkeit der obdachlosen Frauen führt dazu, dass den besonderen Bedürfnissen dieser notleidenden Frauen nur wenig Beachtung geschenkt wird. Zusätzlich sehen sich obdachlose Frauen sowohl auf der Straße aber auch in Hilfseinrichtungen physischer und vor allem psychischer Gewalt durch männliche Leidensgenossen ausgesetzt. Selbst in dieser Notlage der Obdachlosigkeit sind die patriarchalischen Strukturen unserer Gesellschaft deutlich sichtbar. Unser Geschlechterbild, insbesondere unsere Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit, stellen für Frauen eine allgegenwärtige Gefahr dar. Selbst Frauen, die aufgrund ihrer Obdachlosigkeit ohnehin schon an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurden, werden eben dort wiederum zu einer Randgruppe und entsprechend marginalisiert.

Gerade deshalb ist es notwendig, Bewusstsein für die Situation von obdachlosen Frauen zu schaffen. Wir müssen sie und ihre Bedürfnisse sichtbar machen, um ihnen entsprechend helfen zu können. Einige Organisationen gehen bereits diesen Weg. Für das neunerhaus ist „frauenspezifische Arbeit Teil unseres Leitbildes“. Das Tageszentrum Ester der wieder wohnen GmbH bietet Verpflegung, Beratung und Hilfe für wohnungslose und obdachlose Frauen. Schutzräume wie dieser sind unglaublich wichtig und müssen verstärkt gefördert sowie gefordert werden. In einer Gesellschaft, die Frauen ohnehin in allen Bereichen in den Hintergrund drängt, ist es umso wichtiger, unseren Blick ganz bewusst auf die Situation von obdachlosen Frauen zu wenden. Aus diesem Grund haben wir diesem Thema ein eigenes Kapitel in unserem Dokumentarfilm Obdachlos – Zuhause am Rande der Gesellschaft gewidmet. Denn obwohl unsere Wahrnehmung von Obdachlosigkeit sowie die Strukturen der Hilfseinrichtungen tendenziell von einem männlichen Problem ausgehen, hat Obdachlosigkeit per se kein Geschlecht.

Für weitere Informationen zur Situation obdachloser Frauen in Wien: GWF – Gesundheit für wohnungslose Frauen in Wien – Ein Handbuch, Stadt Wien

Mehr Details zum Dokumentarfilm Obdachlos – Zuhause am Rande der Gesellschaft: www.obdachlosdoku.com

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