Geschlechterbinär: Interview mit Entwicklungsbiologen

In einer Welt, die von einer gegensätzlichen Zweigeschlechterordnung geprägt ist, wird das, was nicht der sogenannten „Norm“ entspricht, oftmals ausgeblendet oder unterdrückt. Ein Faktum ist jedoch, dass die starren Einordnungen von „Mann“ und „Frau“ nicht ausreichen, um alle Menschen zu beschreiben. Viele können oder wollen sich nicht in dieser Dichotomie wiederfinden. Diese Einordnungen prägen jedoch nach wie vor, wie über Geschlecht und Geschlechterrollen gedacht wird. Ein fehlendes Wissen über das Dazwischen und Rundherum führt wiederum zu fehlendem Bewusstsein für diverse Genderrealitäten. Oft gilt die Biologie als Rechtfertigungswerkzeug, um ein Modell der Zweigeschlechtlichkeit aufrechtzuerhalten. Aber: Tut sie das wirklich? Diese Frage und andere habe ich dem Entwicklungsbiologen Felix Strasser gestellt.
Hallo Felix, danke, dass du dir Zeit nimmst! Bevor wir mit dem Interview beginnen, würde ich dich bitten, dich kurz vorzustellen.
Ja hallo, ich heiße Felix, bin 28 Jahre alt und habe Biologie und molekulare Zell- und Entwicklungsbiologie studiert. Ich arbeite in einem vergleichsweise kleinen Pharmaunternehmen an der Entwicklung von Impfstoffen. Und uns beide verbindet eine über 10 jährige Freundschaft noch aus “Oberösterreichzeiten”.
Felix, warum setzt du dich persönlich mit dem Thema Geschlecht auseinander?
Ich habe mich, teils aus privatem Interesse, teils durch mein Umfeld angeregt, mit feministischer Theorie beschäftigt, und häufig fielen in Diskussionen, off- wie online, die Argumente etwas würde “biologisch keinen Sinn ergeben”, “Geschlecht sei einfach erklärt”, es gibt “X- und Y-Chromosomen, und damit hats sich”, und es stößt mir jedes Mal sehr sauer auf, wenn die eigentlich so schöne Disziplin der Biologie missbraucht wird, um Hass zu rechtfertigen und Menschen ihre Existenz abzusprechen. Meist von Leuten, die von Biologie keine Ahnung haben.
Grundsätzlich zeigen Erkenntnisse aus der biologischen Forschung gleichzeitig eigentlich das Gegenteil. Ich sehe dieses Privileg biologische, wissenschaftliche Literatur und Diskurse entziffern zu können als direkten Auftrag an mich.
Wie du auch gerade schon erwähnt hast, wird oft mit biologistischen Erklärungen Vorurteile, Hass und Diffamierungen gerechtfertigt: Wollen wir gemeinsam ein paar dieser Diffamierungen durchgehen und dekonstruieren?
Sehr, sehr gerne!

“Es gibt nur Mann und Frau. Das ist einfache Biologie.”
Das ist sogar sehr einfache Biologie, also so vereinfacht, dass sie nicht mehr stimmt. Es gibt einen ständigen und laufenden Diskurs, der sich eben damit beschäftigt, wie Geschlecht definiert wird, und was konkret dieses “körperliche” Geschlecht ausmacht. Beispielsweise ist es biologisch auch nicht immer ganz klar, was eine Spezies ausmacht. Hier gibt es verschiedene Herangehensweisen, die sich mit der Erscheinungsform, mit dem Erbgut, mit der regionalen Verteilung der Populationen usw. beschäftigen, und dementsprechend auf unterschiedliche Ergebnisse kommen. Wichtige biologische Faktoren beim Geschlecht sind Geschlechtschromosomen, äußere und innere Geschlechtsorgane, primäre und sekundäre Geschlechtsorgane und andere Faktoren, wie Hormone, Körperbau usw. Je nachdem welches dieser Merkmale mensch sich ansieht, um zu versuchen, Geschlecht zu definieren, wird es Menschen geben, die damit nicht korrekt zugeordnet werden, und es wird auch Widersprüche intern geben. Viele dieser Merkmale lassen auch keine Einteilung in zwei Kategorien zu. Es gibt nicht nur Penis und Vulva, es gibt nicht nur XX und XY Chromosomen, da Geschlecht komplexer ist. Wir haben alle konkrete Vorstellungen darüber, was es bedeutet ein Mann oder eine Frau zu sein: An den Rändern dieser Vorstellungen ist aber viel Platz, für kunterbunte Grauzonen.
Und damit ist die soziale Komponente und die Selbstidentifikation noch völlig unberührt.
Diese konkreten Geschlechtsvorstellungen werden häufig am Beispiel der Geschlechtschromosomen argumentiert. Mit ihnen wird oft versucht, Transfeindlichkeit zu rechtfertigen.
Das hat, denke ich, viel mit der vermeintlichen Einfachheit dieses Konzepts zu tun. Auch klingt es so schön wissenschaftlich. Die allermeisten haben schon davon gehört, die allerwenigsten wissen genau bescheid. Die meisten Männer haben zusätzlich zu 44 Autosomen noch ein X- und ein Y-Chromosom. Bei den meisten Frauen sind es zwei X-Chromosomen. So weit so gut, jedoch hat nicht jeder Mensch einen einheitlichen Chromosomensatz in jeder einzelnen Körperzelle. Auch gibt es Abweichungen von XX und XY. Manche Menschen haben nur ein X-Chromosom, manche mehr als zwei, manchmal gibt es noch zusätzliche Y-Chromosomen. Und nicht immer ist jemand mit zwei X-Chromosomen eine Frau. Diese Umstände sollten eigentlich schon klarstellen, dass
a) Geschlechtschromosomen nicht allein geschlechtsdeterminierend, also -bestimmend sind und b) 2 Kategorien nicht ausreichen, um Geschlecht zu definieren.
Die meiner Meinung nach größte Schwäche dieses “Arguments” liegt aber in der Umsetzbarkeit. Die allerwenigsten Menschen kennen ihren Karyotyp, also ihren Chromosomensatz, geschweige denn, den von Personen denen sie begegnen. Ich denke, kaum jemand käme wirklich auf die Idee, jemanden nach seinem oder ihrem Geschlechtschromosomensatz zu fragen, wenn man sich nicht sicher ist. In den meisten Fällen ist viel wichtiger, wie sehr mein Gegenüber mit meinen eigenen Vorstellungen von Geschlecht übereinstimmt. Und in diesen konkreten Vorstellungen kommen Geschlechtschromosomen eher selten vor. Viele glauben ihr “Wissen” heranziehen zu können, um ihre gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit zu rechtfertigen.
“Es gibt doch wichtigere Probleme als die Frage nach verschiedenen Geschlechteridentitäten”
Das mag für manche Menschen stimmen. Jedoch gibt es auch sehr viele Menschen, die massiv darunter leiden, dass einem so wichtigen Teil ihrer Identität durch andere Menschen, oder gar dem Staat selbst, die Validität abgesprochen wird. Für viele Menschen stellen diese Probleme zentrale Konflikte in existenzbedrohendem Ausmaß dar. Ich glaube auch nicht, dass “Es gibt doch wichtigere Probleme” ein valides Argument für irgendein Thema ist. Als intelligente Menschen und spezialisierte Gesellschaft sind wir grundsätzlich dazu fähig, uns mit mehreren Themen zeitgleich zu beschäftigen. In eine ähnlich Kerbe würde auch “Das war immer schon so” schlagen, was unser aller Lernfähigkeit doch ziemlich in Frage stellt, wie ich finde.
Hasserfüllte Phrasen wie “wider der Natur” “abartig” “unnatürlich” bedienen sich auch biologistischen Argumentationen. Was sagst du hierzu?
Bei solchen Kommentaren geht es meiner Meinung nach nur um Hass. Mir stellt es da auf jeden Fall die Haare auf. Aber versuchen wir’s:
Grundsätzlich könnte man argumentieren, dass all das was in der Natur vorkommt, natürlich ist. Kaum etwas, was der Mensch kann, ist der Natur fremd. Wenn man sich das aber ein wenig detaillierter ansieht, kommt eine verklärte Vorstellung von “Natur” als etwas perfekt Konstruiertes, wenn mans religiös mag, perfekte Schöpfung, zum Vorschein. Natur als das Schöne oder Erstrebenswerte. In Wahrheit ist Natur aber Chaos. Es klingt jetzt vielleicht ein bisschen fatalistisch, aber Natur, und häufig wird hier auch Evolution ins Spiel gebracht, ist ein großer Zufallsprozess: ständig wird ausprobiert, und alles, was eine zugehörige Nische findet, hält sich.
Ob es jetzt um Rassismus, Sexismus, Transfeindlichkeit oder um sogenannte Fremdenfeindlichkeit handelt, überall finden sich dieselben Tendenzen: Von sich selbst als naturgegebene Norm auszugehen, und davon Abweichende als unnatürlich zu betiteln. Es ist auch bezeichnend, wenn man verfolgt, welche Leute ernsthaft so sprechen und versuchen so Politik zu machen.
Zu guter letzt: Was können Biolog*innen tun, damit die Pluralität der Geschlechter gesehen und akzeptiert wird?
Viel häufiger sollten wir nicht davor zurückschrecken, einzuschreiten und uns zu Wort melden, wenn versucht wird mit Biologie gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit rechtzufertigen. Wie anfangs schon erwähnt, ist es ein Privileg Expert*innenwissen zu haben und dieses auch zu verstehen und ich finde es wichtig, andere daran teilhaben zu lassen.
Danke für das Interview!
Alexandra Mittermüller ist Kultur-& Sozialanthropologin, Research Fellow für die Menschenrechtsorganisation APDHA Cádiz und studiert zurzeit im Rahmen ihres Masters „Gender Studies“ an der Lund Universität in Schweden. Ihren privaten Blog findet ihr hier. https://anthroheart.wordpress.com/
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