Das Konzept "Gender" im Selbstzerstörungsmodus
In meinem aktiven Engagement für Gleichstellung und Gleichberechtigung der Geschlechter gibt es wohl kein Thema, das ich öfter diskutiert und erklärt habe, als den „ominösen“ Begriff Gender. Das liegt vor allem daran, dass ich bemüht bin, meine feministischen Blasen so oft wie möglich zu verlassen und mit Menschen, die sich in der Regel kaum bis gar nicht mit dem Thema auseinandersetzen, über Gleichstellung zu plaudern. Diese Bewusstseinsbildung außerhalb meiner feministischen und progressiven Kreise ist für mich ein integraler Bestandteil meines Verständnisses eines nachhaltigen, gesellschaftlichen Wandels. Wenn wir von einer gerechteren Gesellschaft träumen, dann müssen wir auch das Gros der Gesellschaft mit ins Boot holen. Dazu müssen wir aber auch unsere Komfortzone verlassen und unsere Anliegen in verständlicher und vor allem praktikabler Form unter die Menschen bringen. Denn solange wir in unserem feministischen Elfenbeinturm verharren, wird es bei diesem Traum bleiben.
Die Einführung des Begriffs Gender in die feministische Theorie als Bezeichnung für das sozial konstruierte Geschlecht und die damit verbundene Konstituierung dieses Gender-Begriffs als Gegensatz zum biologischen Geschlecht, sprich Sex, hat der Feminismusbewegung genau in diesem Aspekt der Massentauglichkeit und Breitenwirksamkeit einen großen Dienst erwiesen. Denn diese Unterscheidung zwischen sozialem und biologischem Geschlecht erleichterte die Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Ungleichbehandlung, Diskriminierung und Hierarchisierung der Geschlechter. Die Anerkennung rein biologischer Unterschiede der Geschlechter einerseits, und die gleichzeitige Entkoppelung der gesellschaftlichen Ungleichbehandlung der Geschlechter von diesen biologischen Unterschieden führte zu einem gesteigerten Bewusstsein für die gesellschaftlichen Strukturen und Prozesse, die zu dieser Ungleichbehandlung führen.
In den 1990er Jahren fand in den Gender Studies und der akademischen Auseinandersetzung mit den Geschlechtern im Allgemeinen ein cultural turn statt. Der Gender/Sex-Dualismus wurde zunehmend hinterfragt und dahingehend kritisiert, dass er zum einen die Unterschiede zwischen den Geschlechtern reproduziere und zum anderen auch das biologische Geschlecht im Grunde sozial konstruiert sei. Judith Butlers oft zitierter Satz sex has been gender all along spiegelt dieses veränderte Verständnis wider. So sehr ich diese akademische 180-Grad Wende aus einer wissenschaftlichen Perspektive auch begrüße, kommt sie für mich aus einer gesellschaftsfeministischen Perspektive dem Drücken des Selbstzerstörungsknopfes gleich. Aus akademischer Sicht stimme ich im Verständnis, dass auch unser biologisches Geschlecht sozial konstruiert ist und damit eine Unterscheidung zwischen biologischem und sozialem Geschlecht bedeutungslos ist, durchaus überein. Denn schon die sprachliche Benennung und die folgende Unterteilung in männlich und weiblich stellt eine symbolische und damit sozialisierte Ordnung dar, die für die rein natürliche Reproduktion und die Erhaltung der menschlichen Spezies nicht notwendig ist. Pierre Bourdieu führt dies treffend aus, indem er schreibt: Keineswegs determinieren die Notwendigkeiten der biologischen Reproduktion die symbolische Organisation der geschlechtlichen Arbeitsteilung und nach und nach der ganzen natürlichen und sozialen Ordnung. (S. 44)

Wie so oft, kam jedoch auch diese akademische Wende für die Gesellschaft viel zu früh. Wir haben auf gesellschaftlicher Ebene gerade erst begonnen den Gender/Sex-Dualismus zu verstehen und in unser Denken zu übertragen und schon wird uns von wissenschaftlicher Seite klargemacht, dass diese Unterscheidung eigentlich inhaltsleer ist. Das Fallenlassen dieser klaren Differenzierung zwischen biologischem und sozialem Geschlecht hat verheerende Konsequenzen für unsere feministischen Bewegungen und aktiven Gleichstellungsbemühungen in der Praxis. Denn entgegen der wissenschaftlichen Intention führt diese Auflösung des klaren Dualismus auf realgesellschaftlicher Ebene zu einem spürbaren Backlash und fördert eine Naturalisierung des Begriffs Gender. Besonders leichtes Spiel hat dieser Backlash in der deutschsprachigen Welt, da hier von Anfang an zu nachlässig mit Begrifflichkeiten jongliert wurde. Um der Gender/Sex-Unterscheidung adäquat Rechnung zu tragen, bräuchte es im Deutschen bekanntlich eine konsequente Verwendung des jeweiligen Zusatzes soziales oder biologisches vor der wortgleichen Übersetzung Geschlecht. Um diese sprachliche Komplikation zu umgehen, wurde der Begriff Gender aus dem Englischen übernommen und sollte als Pendant zum biologischen Geschlecht dienen. Jedoch wurde und wird diese Unterscheidung viel zu selten ausdrücklich vollzogen.

Vielmehr kommt es verstärkt zu einer Naturalisierung des Begriffs Gender, sprich einer Gleichsetzung mit dem biologischen Geschlecht. Gender als Bezeichnung der sozial konstruierten Geschlechtsidentität wird damit bedeutungslos. Die Folge ist eine Naturalisierung der Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Unterschiede zwischen Frau und Mann werden wieder zunehmend als naturgegeben angesehen, aber mit Gender bezeichnet. Diese Gleichsetzung und Naturalisierung spielt nicht nur der Anti-Genderismus-Bewegung in die Hände, sondern ist weithin sichtbar.
So auch im Regierungsprogramm der neuen ÖVP-FPÖ Regierung, in dem es zum Thema Frauen heißt: Die Verschiedenheit von Mann und Frau zu kennen und anzuerkennen, ist ein Bestandteil menschlichen Lebens und damit unantastbar mit der Würde des Menschen verbunden. (S. 105). Die fehlende Differenzierung zwischen sozialem und biologischem Geschlecht macht auch hier die Interpretation schwer. Die anatomischen Unterschiede zwischen Frau und Mann – beispielsweise in Bezug auf die unterschiedlichen Ausprägungen der Geschlechtsorgane oder des Hormonsystems – sind unbestreitbar und sicherlich Bestandteil menschlichen Lebens. Die menschliche Würde ist hingegen ein gänzlich soziales Konstrukt. Würde ist nichts Naturgegebenes, sondern ein relationales und sozialkonstruktivistisches Konzept.
Des Weiteren heißt es im Regierungsprogramm: Gesundheitspolitik muss den geschlechtsspezifischen Unterschieden [...] Rechnung tragen. (S. 106). Aus biologischer Perspektive soweit so gut, stellen Eierstöcke oder Prostata doch ganz spezifische Anforderungen an die Medizin. Auch aus einer sozialkonstruktivistischen Perspektive kann man dieser Forderung noch etwas abgewinnen. So sollten beispielsweise psychotherapeutische Behandlungen auf die unterschiedlichen Lebensrealitäten und Erfahrungen von Frauen und Männern in unserer Gesellschaft Rücksicht nehmen. Als entsprechende Maßnahme wird dann jedoch eine Forcierung von Gender Medizin festgeschrieben. Auf der Website der Medizinischen Universität Wien wird Gender Medizin im Mission Statement wie folgt definiert: Gender Medicine erforscht biologische und psychosoziale Unterschiede zwischen Männern und Frauen, die sowohl das Gesundheitsbewusstsein als auch die Entstehung und Wahrnehmung von, wie auch den Umgang mit Krankheiten betreffen. Aus akademischer Gender Studies-Sicht ist dieser medizinische Zugang durchaus wünschenswert, sofern auch die biologischen Unterschiede als soziales Konstrukt verstanden werden. Aus realgesellschaftlicher Sicht kommt dieses Verständnis von Gender Medizin jedoch einer Gleichsetzung von Gender mit Sex und damit einer Naturalisierung des sozialen Geschlechts gleich.

Das Regierungsprogramm und Gender Medizin sind nicht die einzigen Fälle, in denen sich dieser Naturalisierungsprozess widerspiegelt. Doch sie zeigen, dass das bewusste Fallenlassen sowie die teilweise unbewusste Vernachlässigung einer klaren Differenzierung zwischen sozialem und biologischem Geschlecht einen nicht beabsichtigten Naturalisierungsprozess in Gang gesetzt haben, der einem Selbstzerstörungsmodus des Begriffs Gender gleichkommt und der feministischen Bewegung den Wind aus den Segeln nimmt. Gender wird zunehmend als Bezeichnung für die Beschreibung der vermeintlich naturgegebenen Unterschiede zwischen den Geschlechtern verwendet. Das kreiert nicht nur Missverständnisse, sondern ist auch eine klare Zweckentfremdung des Begriffs. Sollte sich dieser Trend fortsetzen, droht unsere feministische Bewegung in ihren realgesellschaftlichen Bemühungen schon bald wieder dort zu sein, wo sie vor ca. 50 Jahren war: auf der verzweifelten Suche nach einer Terminologie und einem Weg, feministische Anliegen der breiten Gesellschaft näher zu bringen.
Inspiriert von:
Butler, Judith (2016): Das Unbehagen der Geschlechter. Edition suhrkamp, Frankfurt am Main, 18. Auflage.
De Beauvoir, Simone (2017): Das andere Geschlecht: Sitte und Sexus der Frau. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, 17. Auflage.
Klinger, Cornelia (2014): Gender in Troubled Times: Zur Koinzidenz von Feminismus und Neoliberalismus. 126-160. In: Fleig, Anne (Hg.), Die Zukunft von Gender. Campus Verlag, Frankfurt/New York.
Landweer, Hilge (2014): Betroffenheit als Widerstand: Phänomenologie und Geschlechterforschung. 186-219. In: Fleig, Anne (Hg.), Die Zukunft von Gender. Campus Verlag, Frankfurt/New York.
Bourdieu, Pierre (2016): Die männliche Herrschaft. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 3. Auflage.